MAYDAY in der Biskaya

Der Seenotfall ist die besondere Situation, in der eine echte Gefahr für Schiff oder Besatzung besteht und fremde Hilfe zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich ist. Den Seenotfall erklärt der Schiffsführer in eigenem Ermessen.

So der offizielle Wortlaut zum Seenotfall. Da draußen auf See fällt die Einschätzung, ob brenzlige Situation oder echte Gefahr, sicherlich nicht immer leicht. Vorausgesetzt das Schiff sinkt nicht, brennt nicht und die Crew hatte auch keinen Herzinfarkt, sondern die Gefahr nimmt schleichend zu, baut sich langsam, aber unausweichlich auf… Wann genau ist der Moment gekommen, um externe Hilfe anzufordern?  „Wenn du ernsthaft darüber nachdenkst, dann ist der Zeitpunkt gekommen“, sagt Pim, Skipperin einer 12 Meter langen Stahlyacht. Ihre Entscheidung, rechtzeitig einen MAYDAY auszulösen, hat mit aller Wahrscheinlichkeit zwei Leben gerettet, ihr eigenes und das ihres Mannes.

Im August 2012 herrschen in Südwesteuropa ungewöhnlich hohe Temperaturen. Die Hitze taugt, um Eier auf der Kühlerhaube eines abgestellten Autos zu brutzeln. Zur gleichen Zeit segeln Pim und Peter von Falmouth (England) nach Baiona (Spanien). Sie queren die Biskaya, jene berühmt-berüchtigte Bucht zwischen Frankreich und Spanien. Unter Seglern gilt die Region als Härtetest mit Aussicht auf heftige Stürme und hohen Seegang. Denn regelmäßig, zumeist ab Herbst, ziehen atlantische Tiefdruckgebiete mit leicht nördlicher Tendenz vorüber und erzeugen durch ihre ureigene, gegen den Uhrzeigersinn drehende Rotation starke Westwinde, die Segler in gefährliche Legerwall-Situationen bringen können. Schon seit Jahrhunderten säumen Wracks den Meeresboden der Biskaya.

Drei Wochen lang lag das Seglerpaar in Falmouth auf der Lauer und wartete auf ein passendes Wetterfenster. Für diese Etappe von rund 600 Seemeilen planen sie 5 Tage auf See.  Beide Segler sind um die Vierzig und keine Anfänger. Er hat den Ocean-Yachtmaster absolviert, sie steht mit dem Off-Shore-Yachtmaster kurz davor. Sogar ein Off-Shore-Survival Training, inklusive Sturmsegeltechniken, ist Teil ihres Repertoires. Am 08.Aug. 2012 ist es endlich soweit, die Wetterprognosen stehen gut. Wohl rechnet niemand mit einer Kaffeefahrt, aber es gibt auch keine Anzeichen von Ärger am Himmel, nur strahlenden Sonnenschein. Die Crew ist  vergnügt, der 12-Tonner rauscht gelassen durchs Wasser. Bald schon funkeln die Sterne in warmer Sommernacht. Da draußen auf See, ohne städtische Lichtverschmutzung, glitzern die Himmelskörper dreimal so schön. Auch das Etmal kann sich sehen lassen, über 100 Seemeilen in den ersten 24 Stunden, so darf es weitergehen.

Am zweiten Abend, 09 Aug., zieht dickes Wetter auf, Nebel verhüllt die Welt. Vom Cockpit aus ist sogar der eigene Bug schlicht weg. Alle festen Konturen verflüchtigen sich nach nur 2 Metern in eine wabernde, blickdichte Masse.  In der Nähe verläuft eine vielbefahrene Schifffahrtsroute. Skippers Augen fixieren Radar und AIS. Ausruhen wird knapp.

Am 10. August feiert Peter Geburtstag. Neben seiner segelbegeisterten Frau sind in diesem Jahr nur Wind und Welle zu Gast. Er fühlt sich gut, Fahrtensegeln ist sein Lebenstraum. Auch Pim liebt die See, vom ersten Moment auf schwankenden Planken entpuppte sie sich sogar als Naturtalent. Happy Birthday! In der Zwischenzeit fällt das Barometer auf 1014 hPa, der Wind dreht von Ost auf Südost. Die See ist moderat, die Wellen 2 – 3 Meter hoch.

Noch in dieser Nacht dreht der Wind weiter auf Süd, dann Südwest. Er kommt genau aus der Richtung, in der ihr Ziel liegt. Ab jetzt gilt Zickzackkurs, Kreuzen hart am Wind. Doch die Hälfte der Strecke ist bereits geschafft, why worry.

Am Morgen des vierten Tages, 11.Aug., fällt das Barometer auf 1007 hPa, der Wind nimmt zu, Windstärke 7 voll auf die Nase – in Böen auch mal mehr. Der Motor läuft zur Unterstützung mit, nicht die ganze Zeit, aber doch so 6 Stunden am Tag. Das Segeln wird anstrengender, die Schieflage gibt sogar dem Teekochen eine akrobatisch- gymnastische Komponente. Pim verkürzt die Streckenplanung, nicht mehr Baiona, sondern Coruna heißt  das neue Ziel. So können sie einen ganzen Segeltag sparen. Plötzlich naht ein Sturmvogel aus dem Nichts, kreist in luftiger Höhe um die Yacht und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist.

12. August, das Leben an Bord ist ausgesprochen ungemütlich. Peter ist seekrank, aber das passiert ihm öfters. Schon seit dem gestrigen Tag fallen Essen und Trinken schwer, außerdem kommt alles, was rein geht, viel zu schnell wieder raus. Die Wellen wachsen auf 4 bis 5 Meter. Der Wind bleibt bei Stärke 6 – 7, weiter aus SW, gibt sich aber wankelmütig – mal kommt er mehr, mal weniger mehr.

Will heißen, Peter muss ständig aufs Deck und an den Mast: Reff rein, Reff wieder raus, Reff rein, auch zweites rein, dann eins wieder raus. Um 20:00 Uhr sitzt das dritte Reff, Peter ist geschafft. Die Fock reißt ein. Sie besitzen noch ein weiteres Vorsegel im Inneren des Schiffes, aber keiner will bei dem Seegang am Bug herumturnen. Die Kutterfock ist zwar angeschlagen, taugt aber nicht im Kampf um Meilen. Und überhaupt, sie kommen kaum noch vorwärts, trotz des mitlaufenden Motors– ein Blick auf die Anzeige: Vorsicht, auch 300 Liter haben irgendwann ein Ende.

Ein schwerer Tag! Na, dann her mit dem heißen Tee und ab in die wohlverdiente Nachtruhe! -  Leider nein, denn obwohl nachts alle Katzen auf der Erde grau sind, wird auf See zusätzlich das Weltenspiel neu verhandelt. Denn Proportionen geraten aus den Fugen. Wenn Skipper matt in der bockenden Koje liegt, den Körper muskelverspannt in möglichst stabile Lage gepresst, gilt: Je dunkler der Himmel, desto heller die Ohren. Wie im Wunderland beginnen alle Geräusche zu wachsen, vom Heulen des Sturmes im Rigg bis zum Scheppern der Müslischüssel im Schapp. Schon rast der Verstand  hin und her, zwischen den bekannten und unbekannten Lauten, in seinem ewig ständigen Bemühen, diese Kakophonie in sinnhafte Ordnung zu kleiden – wenigstens jedem Klang einen Namen zu verleihen. Es gilt: je ausgelaugter der Verstand, desto kreativer die Angebote aus den Weiten der Tiefe. Losgelöst von persönlich paranoiden Tendenzen mutieren selbst sanft zischende Nebenmelodien zu heimlich geflüsterten Gesprächen irgendwelcher Unsichtbaren – aber wer spricht zu wem? und worüber? Ratlos fällt ein Teil der Crew in eine dumpfe Stille, nur um nach 2 oder 3 Stunden wieder im irdischen Bewusstsein zu landen – Wachwechsel!

13. August 2012, 06:00 Uhr. Am Morgen des sechsten Tages steht im Logbuch: „Wir haben nur 10 Seemeilen in den letzten 8 Stunden geschafft“ – sie treten quasi auf der Stelle. Der frühmorgendliche Blick begegnet einer eigentümlichen Wolkenformation. Zwei Tiefs, die sich jagen? Pim starrt fassunglos, was ist eigentlich los da oben? Das NAVTEX liefert passende Daten: Ein Sturm naht mit Windstärke 10 und mehr. Sein Zentrum soll heute, gegen 14:00 Uhr, in einem Abstand von weniger als 20 Seemeilen an ihnen vorüberziehen. Pim weint. Sie hat Angst um ihren seekranken Mann. Heute bricht Peters dritter Tag ohne Essen und Trinken an, 5 Kilo Gewicht hat er bereits verloren, er ist stark geschwächt.

Das Schiff hämmert gegen die Wassermassen der 6 Meter hohen Wellen, der Motor läuft fast permanent. Es sind noch 60 Seemeilen bis zur spanischen Küste. Doch je näher sie der Küste kommen, desto gefährlicher wird es. Der europäische Kontinentalsockel erhebt sich schlagartig von 4000 auf knappe 150 Meter. Das bedeutet, dass die langen atlantischen Wellen abgebremst werden und sich abrupt auftürmen – in Höhen vergleichbar mit mehrstöckigen Wohnhäusern. Außerdem kommen Wind und Welle weiter vorn vorne und nehmen beständig zu. Das Schiff gerät auf Legerwall. Erbarmungslos werden sie – entgegen aller Anstrengungen – in die Bucht und auf die Küste gedrängt.

Abdrehen? Zusammen mit den Naturgewalten an die Küste segeln und dort irgendwie, irgendwo Unterschlupf suchen? Erstens geht das nicht, weil keine Detailkarten an Bord sind und somit nicht klar ist, ob schützende Buchten zwischen den Felsen und Steinen warten. Zweitens würde sich wohl kaum ein Segler freiwillig mitten im Sturm auf eine Legerwall Entdeckertour wagen. Und im Dieseltank ist ab jetzt noch Sprit für weitere 10 Stunden.

Um 09:00 Uhr greift Pim zum Funkgerät und schickt einen MAYDAY – Notruf in die Welt. Doch die Stromversorgung bricht zusammen, der Ruf bleibt unvollendet  – hat irgendwer in der Umgebung sie trotzdem gehört? Und was jetzt? Eine halbe Stunde beraten sich die Beiden – wie echt und unmittelbar sind sie gefährdet? Pim und Schiff sind wohlauf, Peter fühlt sich deutlich schwach und will unbedingt an Land. Fakt bleibt: der Sturm rückt unausweichlich näher, die Küste auch. Wind und Wellen wachsen mit jeder Minute.

Noch in England hatten sie eine EPIRB gekauft, eine auf ihr Schiff registrierte Notfalleinrichtung.

Entsperren, Knopf drücken – der Rest läuft automatisch, wie von selbst. Die Kanaren hören das Signal, alarmieren die Zentrale. Oostende wird gerufen, Peters Mutter befragt. Sie bestätigt: “Ja, Sohn und Schwiegertochter sind auf See.“ Parallel geht Cap Finisterre auf Standby. Und keine 20 Minuten später kreist ein Rettungshubschrauber über der Yacht. Das Handfunkgerät übermittelt die wichtigsten Fragen zuerst. Wie viele Personen sind an Bord. Ist jemand verletzt? Zum MAYDAY gibt es keine Fragen, denn die Situation ist allen klar.

Das Rettungsteam offeriert, die Crew auf der Stelle von Bord zu bergen. Doch das Schiff ist Pim und Peters Zuhause, sie wollen es nicht aufgeben. In Gedanken sieht Peter sich bereits die spanische Küste abklappern und nach seiner verlassenen, vermutlich ramponierten Yacht fahnden. Nein, sie brauchen eine andere Lösung. Vielleicht könnte ein Schlepper kommen? Die Retter in der Luft drehen ein paar Runden. „Si, si – is possible,  in 2 hours a boat will be here!“ Es ist 10:30 Uhr, viel Zeit bleibt nicht. Das spanische Team lässt sich dreimal bestätigen, dass die Crew das Schiff nicht aufgeben will. Dann dreht der Hubschrauber ab, ein weiterer Seenotfall kam eben über Funk.

Unter größter Anstrengung motorsegeln Pim und Peter weiter. Welle rauf, Welle runter, immer hübsch anschnippeln und bloß nicht zu schnell werden, sonst könnte das Schiff über den Bug kentern. Die Wellenhöhe liegt mittlerweile bei 7 – 8 Metern. Doch Erleichterung ist spürbar, Hilfe ist auf dem Weg. Die erste Frage des eingetroffenen Rettungskreuzers ist, ob einer der 4 Spanier an Bord kommen soll, um den Seglern beim Festmachen der Abschlepp-Trosse zu helfen. Nein! Der Wurfball mit Leine geht über, die Festmacher am Bug sind zum Glück stabil genug. Und jetzt nix wie weg, es ist bereits 13:00 Uhr, der Sturm fegt spürbar nah. Mit 10 Knoten fliegen sie hinter ihren Rettern durch eine 10 bis 12 Meter hoch wogende Wellenlandschaft. Ob es zu schnell sei, fragen die Spanier über Funk. Och ja, ein bisschen weniger wäre schön.

Sechs Stunden später landen sie im Fischereihafen von Carino und als erstes reicht der Hafenmeister ihnen einen Drink. Alle sprechen nur Spanisch, bis auf den Kapitän des Rettungskreuzers. Er hilft beim Übersetzen und der Datenaufnahme für die Rechnung. Wären die Segler mit dem Heli geflogen, dann hätten sie nichts bezahlen müssen. Doch das Abschleppen berechnet die SAR (Search and Rescue) nach Arbeitseinsatz: 12:00 bis 19:00 Uhr, 4 Mann macht 1100 Euro. Alles ist gut, das Boot heil, Pim und Peter wohlauf, sie zahlen gerne. Der Kapitän kümmert sich weiter um sie, organisiert ein Zimmer in einem Hotel, in dem sie die nächsten 4 Tage ausschlafen – und wieder zur Besinnung kommen.

Wir haben das Seglerpaar im November auf der Werft in Amora getroffen. Pims Resümée: „So schwer die Tage auf See auch waren, die Situation hatte etwas Gutes. Peter und ich kennen uns jetzt viel besser, und auch das Boot. Wir haben erfahren, dass wir aufeinander zählen können. Richtige Angst hatte ich eigentlich nur vor meinen eigenen Gedanken, wenn sie herumkreisten, um Tod, Ertrinken oder dass Peter von Bord fallen könnte. Vielleicht hätten wir uns auch besser vorbereiten können, besonders bei den wichtigen Manövern wie Person-über-Bord, oder wie man einen Seeanker ausbringt. Doch wirklich froh bin ich, dass ich den MAYDAY rechtzeitig losgejagt habe. Vielleicht hätten wir den Tag sonst nicht überlebt. Mit ziemlicher Sicherheit hätten wir jedenfalls unser Schiff verloren. Wir danken von Herzen den Spaniern. Die waren sehr, sehr professionell und total nett.“

Zur besagten Zeit wird übrigens in Dublin die Regatta der Großsegler gestoppt. Hier eine Notiz der Alexander von Humboldt II. „Der geplante Start am 13. August wurde wegen eines herannahenden Sturmtiefs um 24 Stunden verschoben. So lag die Alex 2 am 14. August kurz vor 19:00 Uhr nahe der Startlinie und überquerte sie um 19:03 als erstes Schiff unter vollen Segeln. Zunächst nur bei mäßigem Wind und ebensolcher Geschwindigkeit von 4-6 Knoten. Doch das sollte sich bald ändern. Die nächsten Tiefausläufer erfassten das Schiff und peitschten es bei Böen bis 11 Beauforts durch die Biskaya.  […] Während mancher Böe zeigte die Geschwindigkeitsanzeige 14,5 Knoten über Grund. Es fühlte sich an, als würde der Rumpf glühen.“

Vielen Dank an Ferdinand Valk für die Satellitenbilder.

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6 Antworten auf MAYDAY in der Biskaya

  1. Samurai Jack sagt:

    Hey guys! It’s Pedro here!

    How is the boat hanging? A bit to the left and a bit to the right I supose, eheh..
    Just read about the MAYDAY Call! Hope it’s all ok with the boat and expecially with the crew. Wish you the rest of a “Vonderba” trip.
    By he way, with all that bad weather did you manage to make any Qi Chung exercises?
    Wish you the best..

    Kiss and hug (for Kalle) from Portugal (Torre da Marinha / Amora)
    Namaste!

    • Kathrin sagt:

      Hi Samurai! How nice to hear from you! I guess the MAYDAY – crew is fine. At least they were last time we saw them! And yes, I am doing some QiGong, but not when it is rough. Many greetings, Kathrin

  2. Aurora sagt:

    Oh whoa, fantastic blog post! Thank you for sharing. I seriously enjoyed
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  3. Betsey sagt:

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  4. Peter sagt:

    Hi Kathrin,

    I liked the story, it ‘s a lot more organised then in our minds. :)

    Have a good time!

    Greetz,

    Peter

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